Ulli Seegers, das stille Leben der Natura morta

Das Stilleben wurde von der Kunstgeschichte für tot erklärt. Totgesagte aber leben bekanntlich länger.   Ob als Gespenst, Schutzheiliger oder undercover agent: von Zeit zu Zeit tauchen sie unvermittelt aus der Abgeschiedenheit ihres stillen Lebens an die Oberfläche auf und blicken um sich. Wie und als was sie dabei wahrgenommen werden, zeugt weniger von ihnen selbst, sondern gibt zunächst Aufschluß über Verfaßtheit und Situation des Wahrnehmenden. Bereits der Zeitpunkt des Totenscheins kündet daher verhängnisvoller Weise oft mehr von der Kondition des Ausstellers als von der des Bescheinigten. Vor diesem Hintergrund sei im folgenden der Versuch einer unzeitgemäßen Betrachtung des Werkes von Dieter Kraemer unternommen.

 

Unbeeindruckt von den künstlerischen Entwicklungen der letzten Dekaden malt Dieter Kraemer seit mehr als zwanzig Jahren Stilleben. Neben Alltagsszenen, Stadt- oder Landschaftsansichten sind es damit vor allem die täglichen Dinge des Lebens, die der Maler auf die Leinwand bannt und sie der Gewöhnlichkeit entreißt. Das Banale und Vergängliche weist in der künstlerischen Aneignung über sich hinaus und wird zum Gegenstand zweckloser Wahrnehmung, zum Bedeutungsträger für das Einzigartige und Unvergängliche. Es ist diese spannungsreiche Gratwanderung zwischen Unscheinbarkeit des Bildgegenstandes und Außergewöhnlichkeit seiner Wahrnehmung, für die aus kunsthistorischer Perspektive erstmals das Stilleben einen Gattungsbegriff ausgebildet hat. Seine eigene Geschichte zeigt, dai3 sich diese Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen alles andere als konfliktfrei ausgebildet hat.

 

Waren Brot, Käse, Birne, Pokal und Wein im 16. Jahrhundert noch überwiegend als Beiwerk eingebund in die Darstellung von Personen und Interieurs, entfalten Tafelgerät und Genußmittel im 17. Jahrhundert eine ausgeprägte Eigensprachlichkeit. In der Folge beherrschen Tausende von Schinken, Hummern und Trauben das Bildformat füllend und opulent: die niederländische Malerei der Goldenen Zeit reizt die Lust am Eßbaren mit einer überbordenden Freude an einer täuschend echten Wiedergabe des Faßbaren aus. Ihr Spiel zwischen Schein und Realität scheint der von Plinius überlieferten Anekdote von den zwei rivalisierenden Athener Malern, Zeuxis und Parrhasios, eine Episode hinzuzufugen. War sich Zeuxis doch bereits seines Sieges im Wettstreit umden größtmöglichen Realismus im Gemälde gewiß, nachdem ein Vogel versucht hatte, an der gemalten Beere zu picken, forderte er seinen Mitstreiter Parrhasios stolz auf, nun endlich den Vorhang vor seinem Bild zu entfernen, damit der Wettkampf entschieden werden könne, womit dieser entschieden war, denn nunmehr war es Zeuxis selbst, der sich durch die realistische Darstellung eines Vorhangs hatte täuschen lassen. Illusion und Wirklichkeit geben sich in keiner anderen Gattung als so nah beieinanderliegend, so verschwistert zu erkennen wie im Stilleben. Schon die antike Malerei war, wie die wenigen überlieferten Stücke und Fragmente beweisen, mit einer ganzen Palette illusionistischer Kniffe vertraut: Fortsetzung des Realraums in den Bildraum (2.B. durch eine   architektonische Scheinnische oder Regalbrettern), Berücksichtigung des Betrachterstandpunktes und der Lichtverhältnisse (Veränderung der Lokalfarben, suggestive Setzung von Lichtakzenten und Schattenpartien), natürliche Größe sowie zwangloses Arrangement des Bildgegenstandes. Die mimetische Strategie der Naturnachahmung aber barg in Vollendung ein für viele Kreise nicht ungefährliches Verführungspotential: der Klerus sah die gleichermaßen wollüstigen wie teuflischen Klauen des trügerischen Scheins nach der Wahrheit des Seins greifen, die Kunsttheorie erkannte den materialistisch-nichtigen Abfall von der hehren Idealität der Kunst, und einige Künstler schickten sich an, die Malerei aus der fremdbestimmten Versklavung durch die Gegenständlichkeit zu befreien.

 

An der der Vielfalt der Kritik ist, und dies zeigen die vielen Renaissancen des Stillebens sehr deutlich, die Gattung letztlich nur erstarkt. Zu selbst begründender Rechtfertigung genötigt, hat sie eine ganze Bandbreite an Strategien entwickelt, den Vorwürfen zu begegnen: christologische (das Buch der Frömmigkeit und der Krug der Jungfräulichkeit), humanistische (Brille und Feder der Gelehrsamkeit) und moralisierende (das umgestürzte Trinkglas und der wurmstichige Apfel als Vergänglichkeitsallegorien) Deutungsmöglichkeiten befriedeten das Scheingefecht von Wahrheit und Täuschung. Andererseits aber eröffneten doppeldeutige Ikonographien und Kombinationen den Himmel der Phantasie und setzten sich geradezu schelmisch über das Korsett der Verortbarkeit hinweg. War die Auster als Fastenspeise eine Aufforderung zum pietätvollen Lebenswandel oder als Aphrodisiakum eher ein Fingerzeig erotischer Freuden? Das bewußte oder unbewußte Changement der Lesarten machte die Stilleben Kassibern vergleichbar, zu Nachrichten aus einer Welt der Sinnlichkeit in eine äußere Wirklichkeit ideologischer Verbrämtheiten, immer aber adressiert an den Menschen in seiner Körperlichkeit. Die kunsthistorischen Deutungsansätze lesen sich nicht von ungefähr oft wie ein Krimi, der den Weg von der Spurensicherung über erste Ermittlungen bis hin zur Urteilsverkündung nachzeichnet. Es liegt jedoch in der Gegenständlichkeit des Motivs selbst begründet, daß es sich immer nur um einen Indizienprozeß handeln kann, ein ambivalentes Unterfangen, das sich in der Leiblichkeit des Betrachters spiegelt: der Körper als Ort der Lust und des Schmerzes.

 

Dieter Kraemer ist zweifellos ein Meister der technischen Präzision. Mit feiner Umrißlinie, durchmodulierter Fläche, naturalistischer Färbung und Schattierung scheinen die gemalten Brot- und Käselaiber, die Weinflaschen und das Gemüse jeden Moment aus dem Bild zu rollen. Geradezu aufreizend verströmen sie ihr appetitliches Aroma und einen tonigen Hauch von Erdigkeit, zum Hinlangen animierend. Denkbar, daß Zeuxis und Parrhasios mit wässrigem Munde in die Leinwand gebissen hätten! Im buchstäblichen Sinne malt Kraemer Tafelbilder, Bilder in Öl und Eitempera, die zum Tafeln einladen, den Tisch für den Augenschmaus decken. Brot, Wein und Käse locken mit einem unwiderstehlichen Purismus, der Konzentration auf das Wesentliche vorgibt. Die Koketterie des Natürlichen verzichtet auf schmückende Accessoires und wirkt anziehend allein durch das So-sein: Jenseits von Vanitas- und Todessymbolik, von mahnendem Vexierspiel und religiösen Attributen lenkt sie die Aufmerksamkeit auf das Was: Formen, Farben und Größen der dargestellten Gegenstände sind selbst Thema. Über die Betrachtung der einzelnen Dinge entzünden sich Geschichten: da stehen die Broccoli- Knospen in geheimer Zwiesprache mit dem Mörtel an der Wand, die Maserung des Holztisches findet Analogien in der Konsistenz des Brotes und das Käserund trifft auf die Ecken und Kanten des Stuhles. Die Ordnung der Dinge steckt voller geheimer Bezüge, die sich nur der Muße der Wahrnehmung entbergen. Unter Absehung von ihrem Nutzwert entfalten sie eine Aura, die den unbelebten Gegenstand zum Phänomen des Lebendigen werden läßt. In den Bildern von Dieter Kraemer werden sich die Lebensmittel Selbstzweck. Mit schier unstillbarem Bildhunger hält er die alltäglichen Dinge fest, die ihm das Malen in gleich doppelter Hinsicht erst ermöglichen: als Bildgegenstand wie als Lebensmittel. - Das Auge ißt mit, sagt Alfred Biolek und in diesem Kontext in zweifachem Sinne! Die Schaulust des Malers ergötzt sich dabei gerade nicht nur an den Köstlichkeiten, sondern weitet sich aus auf die beiseite gelegten, weggeworfenen oder nicht beachteten Reste und Spuren des Lebens in einem menschenleeren Ambiente. Akribisch und geduldig scheint sich Kraemer in seinen Gegenstand zu versenken, in ihm aufzugehen. Von welchem Hunger er bei dieser beinahe meditativen Arbeit wirklich getrieben wird, bleibt unergründlich.

 

Parallel zu den spiralförmigen Überbietungsstrategien des Zeitgeistes übt sich Dieter Kraemer im Akt der Unterbietung. Mit dem unerhörtem Charme scheinbarer Weltferne ist er dem Zwang des Fortschritts entrückt und widmet sich dem ganz und gar Unspektakulären. Vielleicht ist es gerade dieses offensichtliche Unbeteiligtsein, das den flämischen Maler an der Schwelle zum 21. Jahrhundert geradezu widerständig erscheinen läßt. Mit größter Sanftmut und Schlichtheit frönt er der Lust am Malen, ergießt sich in die Betrachtung unprätentiöser Dinge und erfreut sich an seinen genügsamen und ungeschwätzigen Gegenübern. Unter seinen Augen rücken die Gegenstände in ein Licht der Eigensprachlichkeit, unter seinen Händen werden die erstbesten zu Letzten Dingen.

 

Selbst wenn es heute nicht mehr um eine Versöhnung von Schein und Sein gehen kann, so bleibt es Teil künstlerischer Wahrnehmung, das Besondere im Fluß des
Gewöhnlichen herauszustellen. Das Kunstwerk multipliziert den Schein, um dessen Existenz zu betonen. Die Wirkung des Dargestellten wird zu seiner Wirklichkeit. Vor einem erkenntniskritischen Hintergrund erschienen Kraemers Stilleben in einer merkwürdigen Analogie zum gegenwärtigen Körperkult: Wirkungsästhetik spricht die Sinne auf einer unmittelbaren Ebene durch gegenständliche Mittel an und bleibt damit gebunden an die Materialität als solche. Ausgehend von und immer zurückverwiesen auf die Tatsachen werden abstrakte Höhenflüge bzw. rationale Holzwege reiner Idealität im Vollzug ausgebremst. War das Stilleben in seiner Historizität anrüchig gerade ob seiner sinnenfroh-profanen Bodenständigkeit, will es die Ironie der Geschichte, daß das zwanzigste Jahrhundert in der vermeintlichen Banalität des Körperlichen eine neue Qualität entdeckt hat. Nicht von ungefähr erkennt eine der einflußreichsten künstlerischen Strömungen nach 1945 den Zauber des Alltäglichen auf ein neues, eine Strömung, in der auch Dieter Kraemer seine künstlerischen Wurzeln findet: die PopArt.

 

Wenngleich heute vom Stilleben keine neuen Impulse für die Gattung auszugehen scheinen, erinnert es an eine gutmütige alte Dame, deren Strickstrümpfe auch in diesem Winter wieder der Kälte trotzen werden. Das Stilleben führt die Malerei zurück an ihre Ursprünge: zum stillen Leben der Wahrnehmung. Und eben diese bleibt aktuell - auch und gerade im Zeitalter schnellebiger, pixelgesteuerter Medienkunst. Erstaunlich und irritierend aber ist die Vehemenz der Kraemerschen Restitution. Sie trägt Züge einer lautlosen Beteuerung. Viva Natura morta!
Köln im August 1999